Bericht von Angelika Riedlinger
Sri Lanka: Ranjith und der Tsunami
Der brennende Weihnachtsbaum inmitten des aus Holz und geflochtenen Kokosnussblättern gezimmerten Strandrestaurants war wohl das schlechte Omen, ein Tag vor dem Tsunami! Und dabei war es erst eineinhalb Jahre her, als Ranjith durch den Dammbruch in fünfundzwanzig Kilometer Entfernung, und die damit verbundene große Flut, alles verlor!  Zwei Wochen regnete es damals unaufhörlich im Mai 2003, und in einer Nacht besonders stark mit Sturm und Gewitter. Der Murtawella-Damm konnte die Wassermassen nicht mehr halten, er brach und überschwemmte Dörfer, Felder und Strassen. Einige Menschen verunglückten tödlich, an der Küste starb niemand; nur Angst, Schrecken und Zerstörung wurde angerichtet. Ranjiths Restaurant, die sieben Bungalows von ihm und seinem Bruder Daya und das Wohnhaus der Familie wurden vernichtet. Alles was Ranjith sich ab seinem fünfzehnten Lebensjahr mit Hilfe eines liebenswürdigen, holländischen Ehepaars, zusammen mit seiner armen Fischerfamilie mühselig, in vielen arbeitsreichen und sparsamen Jahren aufgebaut hatte, schwamm davon… Ranjith ließ den Stapel Teller inmitten des sehr festlich mit Girlanden und Luftballons geschmückten Restaurants fallen, dass es nur so klirrte, eilte zum brennenden Christbaum, der in der Mitte stand, packte ihn und beförderte ihn mit Schwung hinaus, bevor sein neues, nach der Dammflut gebautes Restaurant, sein Lebensunterhalt, in Flammen aufging! Nach diesem glimpflich abgelaufenen Weihnachtsschrecken wurde das abendliche Barbecue von seinen Hotelgästen und Besuchern anerkennend und begeistert verzehrt. Es waren sogar so viele Gäste anwesend, dass der auf offenem Feuer gegrillte Fisch nicht ausreichte, Hühnchen musste schnell organisiert werden! Die meisten Urlauber schliefen am nächsten Morgen sehr lange. Ranjith saß neben seinem Koch im Restaurant, und nur ein Gast war im Raum, ein Frühaufsteher, der sein Frühstück verspeiste. Auf einmal sah Ranjith, dass das Meerwasser anstieg und schon bis zu seinen Liegestühlen am Strand schwappte. Schnell eilten sein Koch und er hinaus, um die Liegestühle näher zum Restaurant zu schaffen. Seltsam, so hoch kam das Wasser sonst nie! Und während sie das dachten und mit den Liegestühlen beschäftigt waren, stieg das Wasser so schnell und stark, dass es ins Restaurant hineinkam, immer höher, immer schneller! Ranjith lief schnell in die Küche, wollte sein Handy retten, doch das schwamm schon weg! Das Meer stieg in gewaltiger Schnelle immer höher, schnell rannte er zu der nächststehenden Cabana, die ebenerdig lag und als nächstes im Meer versinken würde, schrie und trat an die Tür, doch er konnte nicht länger auf Antwort warten! Er sah seine verängstigte über 70jährige Mutter und die schäumende Wasserwand, die plötzlich wenige Schritte vor ihnen aufragte und die Kronen der acht Meter hohen Palmen nicht mehr sehen ließ! Ranjith rannte zu seiner Mutter, schnappte sie unter den rechten Arm, hielt sie fest und sprang mit ihr zusammen in die gigantisch hohe Welle! Wären die beiden weggerannt und wäre die haushohe Welle über ihnen zusammengeschlagen, hätte das den Tod bedeutet. Ranjith schwamm mit nur einem Arm um sein Leben, seine Mutter in Todesangst, an sich gepresst! Sie kann nicht schwimmen und befahl ihrem Sohn sie loszulassen, er solle sein eigenes Leben retten, sie könne sterben, sie sei ohnehin schon alt! Ranjith konnte sie nicht loslassen, niemals, sie ist doch seine Mutter! Die zweite Tsunamiwelle kam groß und plötzlich, wirbelte die beiden herum und trieb sie auf den Mangrovenwald in 100 Metern Entfernung zu, wo Ranjith einen Ast zum Greifen bekam, und sich auf den haushohen Baum hängen konnte. Seine Mutter hielt er immer noch ohne müde zu werden fest! Das schwarze, wirbelnde Wasser umrauschte sie beängstigend! Plötzlich sauste ein entwurzelter Kokosnussstamm vorbei, und schlug auf Ranjiths Genick. Es hätte sein Ende sein können, doch er hatte Glück im Unglück! Nur ganz kurze Zeit später wirbelte ein steinerner Wassertank, der 2000 Liter fassen kann, auf ihn zu, diese gewaltige Kraft des Wassers lies ihn erschauern, doch geistesgegenwärtig wich er dem daher schießenden Monstrum aus, doch verlor er dabei seine Mutter! Ranjith, in Panik, tauchte unter, konnte nichts sehen, tauchte wieder auf, suchte seine Mutter, schaute verzweifelt um sich! Doch sie war weg, nirgends zu entdecken… Ganz rasch sankt der Wasserspiegel, die zerstörerischen Wassermassen zogen sich ins Meer zurück. Ranjith half Leuten, die hier angespült worden waren von den Bäumen und rettete zweiundzwanzig Urlauber auf das Flachdach des Hauses seines Bruders Karu auf dem Nachbargrundstück! Ranjith versorgte eine schwer Verletzte, deren Brust und Bauch aufgeschlitzt war, und deren Eingeweide aus der riesigen Wunde heraus hingen. Er rannte zum Strand, vorbei an der Cabana, an dessen Tür er getreten und gerufen hatte. Die Tür, samt Vorderwand war nicht mehr da, die Hinterwand war ebenso weg, der Raum total vernichtet, die Urlauber mit stark blutenden Wunden auf das Dach des Bruders gerettet. Sein Haus, sein Restaurant, seine sieben Cabanas, sein kompletter Besitz, lag in Schutt!
Ranjith konnte nicht glauben was hier vor sich ging, ungläubig schaute er aufs Meer, das sich mehrere hundert Meter zurückzog, so dass Sand, Steine und Felsen auf dem Grund sichtbar wurden! Zerstörte Schiffe und Fahrzeuge konnte er am Hafen in der Ferne erkennen, die durch die Kraft der Wellen Richtung Meer mitgerissen wurden und nun im Schlamm steckten. Während Ranjith noch überlegte und schaute, sah er, wie das Meer eigenartig von Richtung Osten in gewaltiger Höhe und mit viel Kraft, aufspritzend, rasend näher kam! Er rannte von panischer Angst gepackt, begreifend, dass die Katastrophe noch nicht überstanden war! Er fiel zwei mal hart hin, schlug sich das Bein an einem Felsen auf, dass es stark blutete, achtete nicht darauf, rannte um sein Leben, doch die riesige Welle war schneller! Mit aller Kraft klammerte sich Ranjith an den nächsten Baumstamm, während das schwarze Meerwasser an ihm riss und zerrte! Er hoffte, genug Luft in seinen Lungen zu haben, um zu überleben! Die Luft reichte nicht, er musste seinen Halt aufgeben, den Stamm loslassen, wurde im Auftauchen mit der gewaltigen Flut mitgerissen, aber er konnte Atem schöpfen! Einen Kilometer oder weiter wurde er mit dieser gewaltigen dritten Tsunamiwelle mitgespült! Um ihn herum schwammen allerhand Gestein, Gebüsch, entwurzelte Bäume, Unrat, Hausutensilien und Unerkennbares! So wurde er bis zur Hauptstrasse mitgerissen! Dort ließ die Strömung nach und das Wasser wurde niedriger. 
Viele Leute – einige angespülte Überlebende und viele zufällig Vorbeigekommene, die nun durch die überspülte Strasse gezwungen wurden zu stoppen – standen auf der Strasse herum, gafften und staunten, begriffen nichts. Ranjith sah einen seiner Brüder, Daya, der mit der ersten Tsunamiwelle in einen Mangrovenbaum gespült wurde, unter einem Ast fest hing, diesen aber abbrechen konnte, sich zur Hauptstrasse hin rettete und soweit wohlauf war. Als die Strömung mit dem starken Wellengang nach etwa zwei Stunden nachließ, schwammen die beiden Brüder zurück, auf der Suche nach ihrer Mutter. Der dritte Sohn hatte die Mutter entdeckt und war schon bei ihr, nun kamen die beiden jüngeren und versuchten die Mutter von ihrem Mangrovenbaum zu bergen. Die alte Frau blutete im Gesicht und an der Schläfe, beide Beine hingen unnatürlich ab, da beide Oberschenkelknochen gebrochen waren, wie sich später herausstellte. Durch den Schock und die großen Schmerzen war sie nicht ansprechbar, erkannte ihre Söhne nicht! Doch zwei ihrer Söhne brachten es irgendwie fertig eine geeignete Welle des immer noch sehr unruhigen Ozeans abzuwarten, um nicht unter die lebensgefährlichen Äste und Luftwurzeln des Mangrovenwaldes gepresst zu werden, sondern zur Mutter zu gelangen, sie in einen angeschwemmten Kühlschrank zu verfrachten und sich mit diesem Boot auf den Weg zur Hauptstrasse zu machen. Doch wieder kam eine Welle, und damit diese nicht den Kühlschrank samt Mutter herumwirbeln konnte, stießen die Brüder das seltsame Boot über den Rand der Welle, tauchten selber unten hindurch und brachten es tatsächlich fertig, die schwer verletzte Mutter zur Hauptstrasse zu schaffen!  Auf einem angehaltenen Motorrad nahm einer der Brüder die Mutter auf den Schoss und so fuhren sie in ein Hospital (etwa acht Kilometer entfernt, denn die Strasse zum nahe gelegenen Krankenhaus in Tangalle war überschwemmt und blockiert), der andere Sohn kam mit einem anderen Gefährt hinterher. Das Hospital war schon am Überquellen, stöhnende Verletzte lagen in den Sälen, entstellte Leichen stapelten sich im Hof, verzweifelte Verwandte und aufgebrachte Angehörige scharten sich überall! Die meisten der Menschen waren nackt, die Kraft der Wellen und des im Wasser herumgewirbelt Werdens, hatte ihnen alle Kleidung platzen lassen oder weggerissen. So auch Ranjith, der erst einige Leute nach einem Stück Kleidung auffordernd fragte, doch dann selbstbewusst einer jungen Frau den Rock vom Leibe riss! Es musste seiner Mutter geholfen werden, und splitterfasernackt wollte er dem untätig in seinem Stuhl sitzenden Doktor nicht am Schlafittchen packen! Doch nun mit einem Rock um die Hüften geschlungen, hob er den Doktor drohend und schreiend vom Stuhl, worauf der endlich seine Beine in die Hand nahm, und anfing die Verletzten zumindest notdürftig zu versorgen! Scheinbar war er von der Katastrophe selbst zu sehr geschockt! Als Ranjith seine Mutter versorgt wusste, eilte er, verschiedene Fahrzeuge anhaltend und mitfahrend, zurück zum Strand, auf der Suche nach seinem kleinen achtjährigen Neffen, seiner zweiundzwanzigjährigen Nichte und seiner 30jährigen Schwester. Da sah er seinen verängstigten, aber körperlich unbeschadeten Vater den Strand zu seiner Richtung her rennen, der zur Tsunamizeit in der City von Tangalle war. Ranjith rief ihm zu, er solle umkehren, zur sicheren Stadtmitte zurück eilen! Der Vater gehorchte und drehte auf der Stelle um. Um die Mittagszeit sah Ranjith einen Kinderarm unter einem Mangrovenbaum zwischen Wurzeln hängend an der Wasseroberfläche, zog an dem leblosen Arm, fischte den kalten Körper aus dem Wasser und musste zum Entsetzen feststellen, dass es sein geliebter, kleiner Neffe war! Ranjith versuchte, eventuelles Wasser aus der Lunge des Jungen zu pressen, doch da sah er die mehr als fünf Zentimeter tiefe Wunde am Hinterkopf, genau unter der Schädelplatte! Nicht Mut und Kraft verlierend, trug er den Jungen zur Hauptstrasse und brachte ihn mit einem Tuck-Tuck zum Hospital. Doch das Leben kam nicht mehr in den kleinen Jungen zurück!
An dem Abend nach diesem grausigen Tsunami brachte Ranjith die zweiundzwanzig Touristen zu einem buddhistischen Tempel, wo mit ihnen viele andere Obdachlose Zuflucht suchten und die Nacht zubrachten. Hilfsbereite Mitmenschen aus Gebieten im Inland, brachten Reisgerichte und Trinkwasser zu den Not leidenden Menschen. Am nächsten Morgen organisierte Ranjith eine Transportmöglichkeit für seine Schützlinge, damit sie sicher nach Colombo kamen und nach Hause fliegen konnten.  Ranjiths zweiundzwanzigjährige Nichte fanden sie am nächsten Tag leider tot, auch sahen sie das erschreckende Ausmaß der zerstörenden Katastrophe. Kein Haus war mehr heil, das ganze Strandgebiet sah aus, wie nach einem Bombenangriff, einzelne Mauern und Ruinen waren zu sehen und jede Menge Schutt und Schlamm. Sogar die Strasse zu diesem einst paradiesischen Ferienhaus- und Hotelgebiet war weggespült. Wie damals bei der Dammflut, nur dieses mal kam das Wasser nicht vom Landesinneren, sondern vom Meer. Gedanken gingen Ranjith durch den Kopf als er am Strand und im Mangrovenwald die vielen entstellten Leichen sieht: Wäre der Tsunami in der Nacht gekommen, keine einzige Menschenseele hätte an der Küste überlebt. Alle wären im Schlaf überrascht worden und wären in der Dunkelheit hilflos den schrecklichen Gewalten ausgeliefert gewesen! Nach drei Tagen entdeckte Ranjith das rote Motorrad seines Bruders im Lagunenfluss liegend, kilometerweit vom Ursprungsort entfernt. So wurden auch Kinder und Erwachsene von den Wassermassen mühelos meilenweit von ihrem Aufenthaltsort mitgerissen. In diesen Tagen nach dem Tsunami wurde geplündert und geraubt, was die gewissenlosen Gauner nur finden und wegschaffen konnten. Ranjith, auf der Suche nach seiner 30jährigen Schwester, verachtete sie abgrundtief. Seine Schwester fand er erst nach vier Tagen des bangen Suchens. Auch sie war leider tot. Bei dem Suchen und ständigen Waten durch Schlamm und Schutt, verletzte sich Chaminda schwer an der Fußsohle, was ihm, zusätzlich zu seinem eingehandelten Lungen- und Genickproblem, lange Zeit zu schaffen machte. Der Tempelinnenhof und die nahe gelegene Schule in einem Vorort von Tangalle war für Ranjith, seine Familie und viele Zig andere einheimische Menschen für mehr als zwei Monate das neue Heim. Unter Plastikplanen wurde gehaust, dicht an dicht. Erst nach mehr als zwei Monaten, starteten Hilfsorganisationen mit dem Bau von vorübergehenden kleinen Holzhäuschen, wo dann alle Obdachlosen Familienweise einquartiert wurden. Da es nach dem Tsunami oft und lang anhaltend regnete, die sanitären Anlagen zu wünschen übrig ließen, Essen, Trinkwasser und medizinische Versorgung erst nach ungefähr zwei Wochen durch Hilfsorganisationen geregelt werden konnte, blieben Seuchen, wie Cholera, nicht aus. Auch Ranjith hatte Magen-Darm-Probleme.
Keiner von seinen so genannten Freunden aus Tangalle, die gerne zu seinem Restaurant gekommen sind und Rechnungen oft nicht beglichen hatten, kam ein einziges Mal, um nach ihm zu schauen, oder ihm etwas zu Essen zu bringen. Nach einer Woche hielt es Ranjith nicht mehr aus. Acht Familienmitglieder hatte er zu betrauern und alles was er sich mühselig und liebevoll aufgebaut und besessen hatte war zerstört. Das Schlimmste von allem aber war, Ranjith hatte den Sinn für das Leben verloren. Er hatte Hunger und Durst, doch durch den vielen Arrack den er trank, nahm er das nicht wahr. Er war ausgezehrt und verzagt. Mit einem Wort: hoffnungslos. Er setzte sich unter die Ruine seines Guesthouses und nahm kaum noch etwas wahr. 
Doch als eine alte Bekannte, eine holländische Frau, die zu dieser Zeit selbst Tourguide in Sri Lanka war, ihn ausfindig machte, zu ihm eilte und ihm ihre Hilfe anbot, nahm er das dankend an. Sie gab ihm und seiner Familie Trinken und Essen, kaufte Kleidung und Medikamente. Sie weckte in Ranjith das gute Gefühl, dass sich doch noch jemand um ihn kümmerte! Die Hoffnung wuchs wieder langsam! Als Ranjith dann im Mai das stille, hübsche Mädchen aus Deutschland traf, das für die Tsunami-Hilfsorganisation ADRA arbeitete, bekam er wieder Lebensmut. Angelika munterte ihn auf, trieb ihn sogar zum Wiederaufbau seines Guesthouses an und unterstützte ihn und seine Familie, wo sie nur konnte.
Durch die finanzielle Hilfe von zwei Tsunami-Organisationen und die Unterstützung von Freunden aus England, Holland und Deutschland war es Ranjith möglich sein Restaurant und Guesthouse neu aufzubauen: www.guesthouse-ibis.de 
Auch die Mutter wurde wieder gesund und war Angelika so dankbar, dass sie ihr ein Jahr später ein ein Hektar großes Stück Land in der Nähe von Tangalle geschenkt hat! Die alte Frau weiß, dass es ein Lebenstraum von Angelika ist, ein Kinderheim aufzubauen. Zu der Verwirklichung dieses Wunsches möchte die Tsunami-Überlebende beitragen.  Mehr Infos zum Kinderheimprojekt: www.eliya-kinderheim-srilanka.com 
 
Angelika Riedlinger