Bericht von Angelika Riedlinger

Nepal: Als Kinderkrankenschwester im Einsatz

Der heutige Tag führt mich, die freiwillige Krankenschwester, zusammen mit dem amerikanischen Doktor Brian und seinen einheimischen Hilfsleuten nach Chalal, einer kleinen Siedlung in den hohen Bergen Nepals hinter Panauti. Bis Panauti nehmen wir im Ambulanzwagen eine Patientin mit Mutter mit, die heute aus dem Scheer Memorial Hospital in Banepa entlassen wird und nicht weiß, wie sie nach Hause kommen soll. Also ist es um zwei Personen enger, in dem ohnehin schon mehr als vollen Jeep. Hinter Panauti wird die Straße, wenn man es überhaupt Straße nennen kann, sehr abenteuerlich; es geht auf und ab, um Kurven herum, Schotter und Sand wechseln sich ab, Löcher und Unebenheiten sind ohne Ende vorhanden, und alles schön dicht am Abgrund entlang! Das ist nichts für Leute die Höhenangst haben. Zweimal müssen wir einen Fluss durchfahren und auf dem letzten Stück fließt sogar ein kleiner Bach auf dem Fahrweg. Ich frage nach, wie die Siedlung denn in der Regenzeit erreicht werden wird, da ich vermute, dass man spätestens hier im Bachlauf, wenn nicht womöglich schon vorher bei den beiden Flüssen, mit dem besten Jeep nicht weiterkommt. „Let´s see“ (mal sehen), erhalte ich als Antwort. Nach insgesamt 40 Minuten sind wir in der kleinen Ortschaft angekommen, die nur aus wenigen Häuschen und Hütten besteht. Aber Patienten aus der ganzen umliegenden Berggegend wissen, dass jeden Mittwoch ein Arzt zur Versorgung kommt und Kranke nutzen das Angebot dankbar. Gleich am Ortseingang biegen wir aus dem Bachlauf ab und parken vor einer ärmlichen Holzhütte, in der sich das dustere Untersuchungsräumchen mit niedriger Holzbank als Pritsche befindet. Gleich daneben ist ein Hühnerstall, in dem mindestens zehn Küken mit samt der Mamahenne piepsen und gackern. Das Räumchen für Madans Laboruntersuchungen ist vor dem Ziegenstall. Und ich stelle die Waage, sowie die Utensilien für die Vitalzeichenkontrolle im Freien auf den Vorplatz neben den Jeep und neben Binods Kassiertischchen. Hinter dem Arzthäuschen sind Männer in einem kleinen Sägewerk beschäftigt; weiter entfernt, aber noch in Blickweite sitzen ein paar Frauen und junge Mädchen auf der Erde und zerklopfen große Steine zu Schotter. Was für eine knochenharte Arbeit diese armen Menschen verrichten – diese Armut der Menschen ist unglaublich. Ich bin immer wieder erstaunt, dies mit eigenen Augen zu sehen. Es erweitert nicht nur meinen Horizont, es gibt nicht nur Einblick in eine andere Welt, ich lerne dankbarer und zufriedener zu sein, bewusster zu leben und mich an kleinen Dingen zu freuen. Ja, Nepal berührt, Nepal formt und prägt mich. Normalerweise fallen die Patienten in Scharen ein, heute allerdings nicht, es kommen nur drei Kranke. Dafür aber ein schwerkranker einjähriger Junge, der apathisch schlaff auf den Armen des Vaters herbei getragen wird. Die Mutter läuft, weiß wie die Wand, neben her. Sofort hört der Doktor Herz und Lunge ab, er reißt dem Kind die schmutzigen Kleider vom Leibe, dann halten wir dem Baby schnell Sauerstoff unter die Nase, messen Puls und Sauerstoffsättigung. Das Kind hat hohe Temperatur, das ist deutlich an den glasig fiebernden Augen zu sehen und am hochroten, heißen Kopf zu fühlen. Ich wische Mund- und Nasensekret des Kindes mit einem Tuch so gut es geht ab. Weder Doktor Brian, noch sein Dolmetscher Hari, der viel Erfahrung in der Notaufnahme hat, können sich erklären, um welche Krankheit es sich hier handelt. Eine Vergiftung? Eine schwere Infektion?

Klar ist nur, mit diesen akuten, schwerwiegenden Symptomen und dem auffälligen Verhalten muss das Kind schnellstmöglich in die Klinik. Es braucht Infusionen und intravenöse Medikamente. Es ist keine Zeit zu verlieren. Sofort packt Brian die Mutter mit dem Kind auf ihrem Arm, und mich mit Sauerstoffsättigungsmeßgerät und Sauerstoffmaske in den Händen in den Ambulanzjeep auf die Rückbank. Der Vater muss hinter der Rückbank die Sauerstoffflasche festhalten, Brian schwingt sich in Windeseile neben Hari auf den Fahrersitz und braust mit durchdrehenden Reifen los.

Die wilde Fahrt geht in einem Affenzahn durch den Bach, dann durch die Schlaglöcher und Kurven der einsamen Straße. Der Abgrund rechts des Weges scheint noch tiefer zu sein, als auf der Herfahrt! Es geht die eine Böschung runter, durch den Fluss durch, die andere Böschung wieder rauf und das, na klar, zweimal. Ich versuche die Sauerstoffmaske über Mund und Nase des kleinen Jungen zu halten, gleichzeitig die Sättigung und den Puls mit der Messsonde zu checken, das jetzt schreiende Kind zu beruhigen und mich noch irgendwo im Wagen festzukrallen. Das ist gar nicht einfach, um nicht zu sagen fast unmöglich, mein Kopf hat bereits Beulen und meine linke Schulter sicherlich blaue Flecken und recht schnell wird mir durch das Geschaukel und das Gerüttelt auch noch seekrank zumute. Aber wenigstens schreit das Kind jetzt und liegt nicht mehr apathisch mit hängenden Gliedern da. Ein gutes Lebenszeichen! Die Sauerstoffflasche hinter mir schlägt metallen an die Haltestreben, obwohl der Vater des Kindes bemüht ist, das Teil ruhig zu fixieren. Hari schaut immer wieder zwischen mir, dem Kind, der Mutter und der schmalen Piste hin und her, Brian ist nur auf das Fahren konzentriert und versucht möglichst schnell um die Schlaglöcher zu kurven. In Panauti auf normaler Straße angekommen, stoppen wir kurz an einer Spelunke, Hari bittet den Wirt, schnell im Scheer Memorial Hospital anzurufen und uns mit einem Kindernotfall anzukündigen. Das rasche Improvisieren lernt man gezwungenermaßen in Nepal.  Ja, es geht auch ohne die Technik einer Funksprechanlage. Aber das auf dem Dach vorhandene „rote Blaulicht“ mit schrillem „Tatü-Tata“ wird nun eingeschaltet, um die immer gemütlichen Menschen und langsamen Tiere zu warnen und von der Fahrbahn zu verscheuchen. Wegen der entgegenkommenden Fahrzeuge, die oft die Kurven schneiden,  ist die Fahrt auf keinen Fall ungefährlicher als zuvor. Die nun befestigte Seitenböschung der Straße kommt oft genug verdächtig nahe. Unsere Schutzengel haben alle Hände voll zu tun! Ich stelle mir vor, wie sie schnell und sicher über dem Jeep herfliegen, um auf uns aufzupassen. Welche Freude, die letzte Anhöhe, die letzte steile Kurve und wir brausen mit Volldampf in die Einfahrt des Hospitals. Ich springe aus der Wagentür, schnappe das Kind und flitze in die Notaufnahme, wo Doktor Simon, der Chirurg aus Brasilien, und ein junger nepalesischer Arzt schon bereit stehen und das Kind nun untersuchen. Ein i.v.-Zugang wird gelegt, eine Blutentnahme wird durchgeführt und Doktor Ramesh, der Pädiater, der dazukommt, tippt bei der Diagnose auf Meningitis. Er ordnet umgehend eine Lumbalpunktion an, bevor der kleine Patient im Kindersaal des „Medical Wards“ aufgenommen wird. Mein Kopf ist noch ganz doll und mein Magen meckert noch, da ruft Brian schon wieder zur Abfahrt. Aber wenigstens geht es nun bedächtiger um die Kurven und gemächlicher zurück zum „Health Post“ des kleinen Dorfes. Hari und ich loben Brian: „Du bist ein wirklich guter Fahrer!“ Aber Brian meint abwinkend: „Unsere Schutzengel sind noch viel besser!“ Wohl wahr, vor allem der des kleinen Jungen. Nach getaner Arbeit in der Tagesklinik der Siedlung fährt unser Team ein gutes Stück weiter auf der ausgewaschenen und ausgefransten Straße, da die Idee aufgekommen ist, weiter oben in den Bergen, im nächsten Siedlungsbereich, eine neue medizinische Versorgungsstelle einzurichten. Ein sich dafür zuständig zeigender Mann aus Chalal fährt mit. Wir holpern an einem recht breiten Fluss entlang, immer höher in die grünen Berge, in die scheinbar unberührte Natur mit gesunden Wäldern.

Auf den Wiesen leuchten gelbe Blumen in der warmen Nachmittagssonne, es duftet nach süßen Harzen und würzigen Kräutern. Der Weg ist halsbrecherisch, die Aussicht allerdings herrlich! Nach jeder neuen Biegung öffnet sich ein weiteres Tal in der Ferne, grüne Landschaft ohne Grenzen lassen das Herz höher schlagen. Nicht nur mein eigenes, auch die ein-heimischen Insassen des Jeeps gefällt ihre Heimat sehr. Wäre es nicht so diesig, würden wir irgendwo weit weg sogar die Schneeberge des Himalaya sehen.

Fernab aller Zivilisation leben die Leute hier ohne Trubel und ohne Hektik in einer weitläufigen Ortschaft. Aber wehe dem, der schwer krank wird. Doktor Brian und seine einheimischen Mitarbeiter beratschlagen mit dem Dorfältesten, der über die angebotene medizinische Hilfe sehr dankbar ist. Ich lächle die schmuddeligen barfüßigen Kinder mit den verfilzten Haaren an, die mich bald neugierig umringen und mich aus ihren großen schwarzen Kulleraugen erstaunt anstarren. Auf der Heimfahrt diskutieren die Männer, ob es nicht zu aufwendig ist, jede Woche in das weit entfernte Nest zu gelangen. Jetzt ist es noch machbar, wenn auch sehr zeitaufwendig, aber während des Monsuns ist es schier unmöglich. Ich schaue aus dem offenen Fenster, lasse mir den angenehm frischen Wind in die Haare wehen, betrachte die sich immer wieder neu entfaltenden grünen Täler, denke über diesen abenteuerlichen Tag nach. Ich empfinde Schwermut und Traurigkeit, denn ich denke an die armen Kinder. Doch da ist auch ein Gefühl der Hoffnung und langsam entsteht tief in mir die Idee vom Aufbau eines Kinderheims. Angelika Riedlinger Anmerkung der Online-Redaktion:

Mittlerweile hat Angelika den Verein “Eliya Kinderheim e.V.” gegründet, der Spendengelder zum Aufbau eines Kinderheimes in Sri Lanka sammelt. Baupläne und Genehmigungen zum Bau des Heimes liegen vor und die Grundsteinlegung ist bereits erfolgt. Über aktuelle Informationen aus dem Projekt berichtet Angelika regelmäßig im Forum der Webseite.

Mehr Infos zum Kinderheimprojekt: www.eliya-kinderheim-srilanka.com