Text von Silvia Gottwald

Tschechien: Reise zu den eigenen Wurzeln 

Nicht weit ging es diesmal, nur kurz hinter die tschechische Grenze, in ein kleines Dorf in der Nähe von Brüx (oder Most, wie es heute heißt). Trotzdem war die Aufregung groß -wie wird es sein, in die “alte Heimat” zu kommen, in den Geburtsort meiner Mutter – dort, wo ich noch nie war?

Das Schicksal der Vertriebenen nach dem Krieg liegt über unserer Familie. Es erging ihnen wie damals vielen im Sudetenland: Trennung der Familie, Zuweisung in Lager und anschließend an Orte, in denen sie nicht erwünscht, sondern mehr oder wenige rnur geduldet waren. Mitnehmen durften sie fast nichts und selbst davon wurde ihnen noch genommen, was irgendwie einen Wert hatte. Sie haben hart ums Überleben gekämpft – Entbehrung, Krankheit und viele schwere Erfahrungen sind damit verbunden. Viele Jahre dauerte es, bis sie an einem Ort bleiben und eine kleine Wohnung “zuhause” nennen konnten.

Aber das wirkliche DAHEIM war dort geblieben, wo sie herkamen. Dort gab es Powidl, Knödlicki und die besten Birnen … Und da wollte ich hinfahren.

Ich hatte Glück, dass meine Großeltern viel von damals erzählt haben: von der Arbeit auf dem Land, dem Leben dort. Schon als Kind habe ich viel danach gefragt. Eines Tages hat mein Opa seine wichtigsten Erlebnisse für mich aufgeschrieben. Mit seinem kleinen Buch im Gepäck und gemeinsam mit meiner Mutter ging es jetzt los.

Viele der vertrauten Orte gibt es nicht mehr, sie sind dem Kohleabbau zum Opfer gefallen. Auch die Menschen von damals sind nicht mehr da. Aber: Wir haben ganz viel Glück und treffen bei der Frage nach dem Weg auf die einzige Frau in der Gegend, die noch deutsch spricht, im Geburtsort meiner Mutter gewohnt und meine Großeltern noch gekannt hat!

Nach zunächst ungläubiger Überraschung auf beiden Seiten, einer warmherzigen Begrüßung und vielen Fragen begleitet sie uns spontan: Das kleine Haus, in dem meine Großeltern gewohnt haben, steht noch – unbewohnt, mit inzwischen abgeblättertem Verputz – doch weitgehend unverändert so, wie meine Mutter es in Erinnerung hatte. Als Fünfjährige musste sie dort fort.

Unsere Begleiterin befragt die tschechischen Nachbarn zu diesem und jenem, und wir sind froh, dass sie übersetzen kann. Auch von den Dorfbewohnern bleibt der ein oder andere stehen, doch ist ein Anflug von Misstrauen der Tschechen uns gegenüber spürbar.

Ein paar Schritte weiter: die Gleise und der Bahnübergang. Wo es heute so idyllisch wirkt, haben sich in Kriegstagen dramatische Szenen abgespielt. Kohle wurde dort gesammelt, die beimVerladen heruntergefallen war. Es gab ja sonst nichts zum Heizen. Auch der alte Pflegevater meiner Oma war dabei. Als er stürzte, hat ihm ein Wagon beide Beine abgefahren. Es gab keinen Arzt in der Nähe, keine Möglichkeit, ihn zu retten. Mein Opa, damals ein junger Mann, musste seinen Handwagen nehmen und ihn begraben.

Wir verabschieden uns, um noch weitere Orte zu sehen, die für meine Großeltern Bezugspunkte waren, wie Tschöppern, Kopec und Brüx.   

Ich bin sehr dankbar, mit dieser Reise einen wichtigen Teil in der Geschichte meiner Familie und Orte kennen gelernt zu haben, an denen sie über Generationen zuhause waren. Ich habe erfahren, dass die “alte Heimat” auch mir viel zu geben hat. Und ich stehe fester in meinem jetzigen Leben, dadurch, dass ich einige Puzzleteile meiner Herkunft zusammensetzen konnte.

Silvia Gottwald

s.gottwald@menschen-international.de 

Übrigens: Powidl ist Pflaumenmus und Knödlicki sind böhmische Knödel, die mit einem Faden in Scheiben geschnitten werden.