Text von Gerhard Huber

 

Die Dogge und der Jaguar

oder

War Alexander von Humboldt ein Schamane?

Als Alexander von Humboldt zusammen mit dem Botaniker Aimé Bonpland zwischen 1799 und 1804 Mittel- und Südamerika bereiste, erforschte er während dieser Reise nicht nur die exotische Pflanzen- und Tierwelt, sondern beschäftigte sich auch mit der Kultur der Ureinwohner des Landes. Durch Indios, die die beiden Forscher als landeskundige Führer und als Helfer begleiteten, machte Humboldt Bekanntschaft mit der Lebensweise und den Mythen der Inka und damit lernte er, wissbegierig wie er war, sicher auch die Religion dieser Menschen kennen.

Auf dem Gemälde „Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland in der Ebene von Tapia am Fuße des Chimborazo“ (von Friedrich Georg Weitsch, entstanden um 1810) sind Humboldt und Bonpland in ihrem Lager zu sehen, das sie am Fuße des Chimborazo aufgeschlagen haben, bevor sie den damals höchsten Berg der Welt bestiegen. Alexander von Humboldt ist mit einem Indio dargestellt, dem er einen Sextanten zeigt. Daneben sieht man Bonpland, der ein Herbarium anlegt und neben ihm liegen, um ebenfalls studiert zu werden, weitere Pflanzen und ein toter Kondor, der „Riese unter den Geiern“ wie Humboldt im zweiten Band der „Ansichten der Natur“ den Andenvogel nennt. Der Indio bestaunt den ihm völlig unbekannten Sextanten und betrauert vielleicht den toten Kondor, der als Seelenvogel und heiliges Tier in den Religionen der Andenvölker gilt.

Humboldt führte auf seiner Südamerikareise eine deutsche Dogge mit sich und eben diese Dogge wurde eines Nachts von einem Jaguar gerissen. Die Schamanen Südamerikas sind heilige Männer. Sie sind angesehen bei ihrem Stamm, denn sie betreiben Krankenheilung und Seelenrettung. Und, so heißt es in den Mythen und Legenden, sie sind in der Lage, sich in einen Jaguar zu verwandeln. Ein Jaguar, ebenso wie der Kondor ein heiliges Tier, hatte, wie bereits erwähnt, Humboldts Dogge getötet.

„Berge und Wälder hallten wieder […] von dem Gebrüll des tigerartigen Jaguar“, schreibt Humboldt im ersten Band der „Ansichten der Natur“ einmal; doch in jener Nacht, in der die Dogge von einem Jaguar erlegt wurde, hat man wohl nichts gehört. Denn vielleicht war es ja ein Schamane in seiner Manifestation als Jaguar gewesen, der diese Dogge getötet hatte. Möglicherweise hatte einer der indianischen Begleiter Humboldts den Schamanen seines Stammes von diesen beiden wunderlichen Fremden berichtet, von ihren seltsamen Gerätschaften und von der unermüdlichen Wissbegier der beiden Forscher und vielleicht auch von dem toten Kondor.

Der Schamane hat die beiden Fremden womöglich beobachtet und ist zu der Erkenntnis gelangt, der eine von beiden könnte ebenso ein heiliger Mann sein wie er selbst und die Dogge könnte dessen heiliges Tier sein. Möglicherweise sah der Schamane eine Bedrohung seiner eigenen Position durch den Fremden mit den seltsamen Gerätschaften und dem unbekannten Tier. Und vielleicht hat daher der Jaguar die Dogge getötet, um die Macht des fremden Schamanen zu brechen.

Doch Alexander von Humboldt war ein wissbegieriger Forscher und kein Schamane. Er wäre wahrscheinlich einer geworden, wenn er als Indio in Südamerika geboren worden wäre, denn die Schamanen sind nicht nur diejenigen, die die Kranken heilen und die Reisen in die Welt der Geister und Götter unternehmen, sie sind diejenigen, die das Wissen um diese Dinge besitzen und weitergeben. Und sie sind immer auf der Suche nach neuen Erkenntnissen, vor allem bezüglich der Natur und des Kosmos. So gesehen war Alexander von Humboldt wohl doch ein Schamane.

Gerhard Huber

g.huber@people-abroad.de