Bericht von Florian Pielert Nicaragua: Anderer Dienst im Ausland in Nicaragua Ein Jahr in Nicaragua ist doch nur wie ein Wochenende… Das Jahr ist rum, ganz einfach vorbei. Im Nachhinein, natürlich, da ging alles viel zu schnell, allerdings hatte ich in meiner Anfangszeit ganz und gar nicht das Gefühl die Zeit würde mir nur so um die Ohren sausen. Gut, anfangs hatte ich immer die Angst etwas zu verpassen und habe die Augen weit aufgerissen, aber nichts desto trotz vergingen die Wochen eher langsam. Ich habe mich auch schon in den ersten Wochen wohlgefühlt in Nicaragua und trotzdem schienen die Tage manchmal kein Ende zu nehmen. Vielleicht weil sie alle so ereignisreich waren, weil es jeden Tag in der Anfangszeit etwas Neues zu erleben gab.
Leben in einem Entwicklungsland Das Hauptmotiv für meinen Anderen Dienst im Ausland (ADiA) war es ein Entwicklungsland kennen zu lernen. Ich wollte mehr über das Leben dort wissen als man aus Zeitungsartikeln und Fernseh-Dokus lernen kann. Hautnah mit einer Familie zusammenleben, deren Kultur und Lebensweise und im Laufe der Zeit ein bisschen das Land kennenlernen, das war mein Ziel. Auch der erste Eindruck von Ocotal verwunderte mich, hatte ich mir die Stadt doch dreckiger, das Umland abgeholzter und das Straßenleben mittelalterlicher vorgestellt.
Es gehört zu einen der ersten Erfahrungen, die der unwissende Ausländer hier macht, das viele Dinge erstmal nicht so offensichtlich zu sehen sind. Armut zum Beispiel. Wer auch nur ein Hemd und eine Hose besitzt, der läuft in Nicaragua ordentlich durch die Straßen, der würde auch hier nicht groß auffallen. Die Haushaltsgehilfin meiner Gastfamilie würde in Deutschland jedes noch so feine Hotel besuchen können, allerdings könnte sie nicht ihren Namen ins Gästebuch schreiben. Man muss schon zu ihr nach Hause gehen, um die Lebensverhältnisse zu begreifen.
Auch das Ocotaler Umland wirkt sehr schön. Von Holzabschlag ist da erstmal nicht viel zu sehen, ich kam in der schönen Regenzeit an und machte mit Janis herrliche Wanderungen durch die Natur. Erst in der Trockenzeit verwandelt sich alles in kahle Halbwüste, Kakteen kommen zum Vorschein und das schöne grün entpuppt sich als Farbeindruck vieler Sträucher, die nun nach und nach vertrocknen. Weite Teile der Landschaft sind in den letzten Jahrzehnten abgeholzt worden.
Die schönste Erfahrung war von Anfang an die Freundlichkeit der Menschen. Meine Gastfamilie hat mir gleich zu Beginn den Eindruck gegeben, ich sei schon lange Bestandteil des Clans. Dadurch, dass meine Familie Olivas Paz so reich an Familienmitgliedern war, konnte ich übers Jahr wirklich sehr viel mitkriegen über nicaraguanisches Alltagsleben. Zunächst einmal fällt auf, dass innige Familienstrukturen – wahrscheinlich ist dies in ganz Lateinamerika der Fall – viel stärker vorhanden sind als in Deutschland. Immer kommt irgendwer zum Erzählen, was er denn nun gerade so macht und im Allgemeinen drehen sich die meisten Gespräche auch um die Familie.
Stoff ist immer gegeben, denn bei so einer großen Verwandtschaft ist immer was los. Zweimal im letzten Jahr hat sich meine Familie auch in fast vollständiger Besetzung in Ocotal getroffen, wobei soziale Kontakte geknüpft werden konnten. Meine zwei Gastbrüder haben Janis und mich mit weiteren gleichaltrigen Familienmitgliedern bekannt gemacht und so hat sich ein kleiner deutsch-nicaraguanischer Freundschaftskreis gebildet. Ich denke wir haben alle sehr voneinander profitiert. Es gab in meiner Familie immer Interesse etwas aus Deutschland und dem Leben dort zu erfahren und gleichfalls wurde mir der bestmögliche Einblick in das nicaraguanische Familienleben gewährt. Die Menschen sind sehr offen und wollen allerhand wissen. Oft liefen bis zu 15 Personen im Aufenthaltsraum herum, während ich dort mein Abendessen einnahm. Generell war immer viel los auf der Wohnfläche, vor allem wenn die kleinen Kinder da waren. Sehr interessant am Anfang fand ich die Besuche der Campesinos (Bauern) aus dem Ocotaler Umland, die sehr früh morgens aus ihren Bergen steigen, um tagsüber in Ocotal ihre Waren zu verkaufen. Sie bringen Obst, Gemüse, Feuerholz, Hühner und andere Produkte.
Das meiste wird auf dem Kopf transportiert, oft ältere Frauen die ihre Enkelkinder als Unterstützung dabei haben. Auch die Schuhputzer besuchten unser Haus häufig in der Hoffnung ein paar Córdobas zu verdienen. So bekam der “Deutschling” auch schon frühzeitig Einblicke in die nicaraguanische Sozialstruktur. Sehr vorteilhaft in meiner Familie war, dass ich ein eigenes Zimmer, fast ein eigenes kleines Häuschen hatte, in das ich mich zurückziehen konnte. So war eben beides vorhanden, das laute “Nica-Leben” sowie die Privatsphäre. Ein kulturelles Leben hat es in meiner Familie wenig gegeben. Es wird generell wenig gelesen in Nicaragua und auch selten ausgegangen – abgesehen von Kneipenbesuchen. Ein Theater oder dergleichen gab es dort nicht, was aber gepflegt wird sind traditionelle Tänze und Kunsthandwerk.
Eine andere Familie Eine ganz neue Erfahrung hat mein ADiA durch Flor erhalten. Durch sie lernte ich auch ihre Familie und damit das Leben einer ärmeren Familie in Nicaragua kennen. Es war schon so, dass wir Zivis in reicheren Familien lebten und durch Inprhu, unsere Chefin doña Martha und das Leben im Stadtzentrum eher mit der privilegierteren Schicht Nicaraguas zu tun hatten. Flors Mutter Juana macht seit Jahrzehnten Tortillas und arbeitet als Schneiderin. So hat sie die Familie über all die Jahre mit knapper Not über Wasser gehalten.
Mit 16 bekam sie ihr erstes Kind, vier weitere sollten folgen. In der Zeit des gemeinsamen Zusammenlebens litt Juana sehr unter der häuslichen Gewalt ihres Ehemannes, der als Polizist keine Angst vor Strafverfolgungen haben musste. Nach der Trennung vergaß der Mann seine Familie, Juana lebte und überlebte mit den fünf Kindern, so gut es ging.
Die meisten sind mittlerweile erwachsen und die nun freie Zeit verbringt Juana in der Schule. Jeden Abend besucht sie die dritte Grundschulklasse, um ihre Lese- und Schreibkünste zu verbessern. Um zehn Uhr kommt sie nach Hause und steht jeden Morgen um drei Uhr wieder auf, um Tortillas zu backen. Die gemeinsame Zeit mit dieser Familie, vor allem der fröhliche Humor Juanas, hat mich sehr beeindruckt.
Zeugnis ablegen und irgendwann zurückkehren Das ganze Jahr hat meine Persönlichkeit unheimlich voran gebracht. Ich habe so viel gelernt und das lässt sich nicht auf die eine Woche Kaffee-Ernte oder die Arbeit als Beobachter während den Kommunalwahlen “reduzieren”. Janis und ich haben einfach Einblick in eine andere Welt erhalten und konnten uns ein Bild machen von der dortigen Lebensweise.Von daher haben sich alle meine Erwartungen erfüllt. Nebenbei kann ich jetzt auch Spanisch sprechen, was bestimmt nicht von Nachteil ist für das weitere Leben.
Natürlich möchte ich irgendwann nach Ocotal zurückkehren und alle Bekannten und die Projekte dort wieder sehen. Das wird auch sicherlich klappen, aber im Moment weiß ich nicht, wann das sein wird. Vergessen werde ich mein Dörfchen im Norden Nicaraguas jedenfalls nicht…
Florian